GEGENWARTSLITERATUR 3347

 

Auf einmal war ich mitten drin

 

„27 Seiten lang kämpften sie zuerst aussichtslos, dann aber glorios, heldenhaft, die Feinde wurden Freunde, statt Krieg war dann Frieden. Bzw ich kann mich an die Handlung nicht mehr erinnern.“

 

Rudolf Lasselsberger bringt in seinem straffen Bildungsroman „Auf einmal war ich mitten drin“ entscheidende Lebensfelder zu Sprache, indem er komplizierte Entwicklungsprozesse einfach anhält und in Wort und Bild ein literarisches Selfie macht.

 

In neun Miniaturen werden die entscheidenden Knackpunkte für eine gelungene Lebensformung angesprochen und wie ein Kniegelenk kurz angespannt und dann wieder entlastet. Zudem wird die entsprechende Episode mit einer knackigen Überschrift versehen, und eine abschließende Skizze auf patiniertem Millimeterpapier schließt den Fall ab, der oft als Highlight eines ganzen Schuljahres empfunden wird.

 

Im „Aufsatz“ tauchen sogenannte Gutos und Bösos auf, machen etwas mit- und gegeneinander, aber der Aufsatzschreiber verliert sich im Schreibfluss, sodass er die Handlung vergisst. Jedenfalls bleiben 27 Seiten Stoff auf dem Papier kleben, und Lehrpersonal und Mitschüler sind sich einig, dass sie so etwas Großes noch nie gesehen haben.

 

Für das schreibende Kind freilich ist es eine Vorahnung von jenem Rausch, der über ihm hereinbrechen wird, wenn es später Schriftsteller wird.

 

„Die Schundheftln“ gelten heute als rare Dokumente einer rasanten Pädagogik aus den sechziger Jahren. Um diese Zeit steht der Klassenvorstand regelmäßig am Schulportal und kontrolliert, ob nicht jemand Comic-Hefte im Ranzen hätte. Allein, dass der brave Held kontrolliert wird, ob er nicht doch etwas Bebildertes unter die Schulsachen geschmuggelt habe, empfindet dieser als entwürdigend. - Ein halbes Jahrhundert später wird er vielleicht diesen pädagogischen Argwohn verstehen, als die Story um die Welt geht, wonach der bayrische Vizeministerpräsident als Schüler Nazi-Devotionalien in die Geschichtsschreibung geschleust hat. Ihn hätte man kontrollieren müssen, dann wäre dem Land viel internationaler Schmach erspart geblieben.

 

„Lauter Einser“ ist für gute Schüler jene Zauberformel, mit der sie die Tore zur Welt aufstoßen, mögen sie selbst noch so entlegen und von Bildungszentren entfernt wohnen. Zur Einser-Leistung gehört auch die Bescheidenheit. Der Ich-Erzähler lässt daher bei Fragen an die Klasse immer den anderen den Vortritt, wenn es um die Beantwortung eines Problems geht. Wenn niemand mehr was weiß, kann er sich ja immer noch zu Wort melden und den Einser abholen.

 

Als die Episode mit der „Party“ passiert, ist der Erzähler schon etwas älter, aber auf der Gefühlsebene zittrig wie ein Säugling. Beim entscheidenden Tanz ist er einen Schritt zu langsam und verpasst dadurch die angebetete Helga, die prompt in die Tanzarme eines anderen fällt.

 

Auch beim anschließenden „Schulausflug“ kommt es im Bus bloß zu einer Berührung mit einem Oberschenkel von Helga, die aber folgenlos bleibt. Daraufhin zieht sich der Held auf eine Lebensformel zurück, die im ewig gut tun wird: „Aus dem Busfenster schauen und sich nicht bewegen trauen.“

 

Einen Höhepunkt literarischer Bildung stellt im vorigen Jahrhundert das Aufsagen von Schillers „Bürgschaft“ dar. Zusammen mit einer hoch gebildeten Kommilitonin bewältigt der Held das Herunterspulen fehlerfrei. Abwechselnd bewältigen die beiden alle Strophen makellos und bringen sogar den Klassenvorstand, „Hiasl“ genannt, zum Klatschen.

 

„Geometrisches Zeichnen“ gilt gemeinhin als jenes Fach, in dem es auf die Hardware drauf ankommt. Der Held hat nicht nur das beste Geodreieck des Jahrhunderts im Ranzen, das Lang-Lineal ist wie eine Lang-Spielplatte mit den aktuellen Band-Namen beschriftet. Auch hier kommt es auf die Länge des Namens drauf an: Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich.

 

Nach einem schulischen Transfer in die nächste Bezirksstadt wird das „Fußballtraining“ zum prägenden Ereignis. Auf der Jagd nach dem Lebensgefühl von Ajax Amsterdam wird selbst das finsterste Flutlichttraining zu einem Leuchtband mit dem Schriftzug Johan Cruyff.

 

Die Abschlussepisode ist ein Wortspiel: Das „Tor“ im Fußball entspricht in der Pädagogik jenem Tor, das einem für den Weg hinaus in die Welt offensteht.

 

Die Zeichnungen sind feinfühlig minimalistisch ausgeführt und halten sich an die Struktur des Millimeterpapiers, was ihnen einen sauberen und korrekten Anstrich gibt. Man ist als Betrachter geneigt, intuitiv ein Sehrgut zu geben.

 

Der sogenannte Anhang besteht aus 14 Landschaften von Erich Sündermann. Die Bilder erzählen eine ähnliche Bildungsgeschichte, die in diesem Fall aus den Strukturen, Formen und Hügeln der Landschaft herauswächst. 

 

Da die beiden Künstler aus der gleichen Gegend stammen, ist zu vermuten, dass ihnen eine ähnliche Empfindungsgeschichte zugrunde liegt. Text und Bild formen sich zuerst in zwei Künstlerseelen und werden in Flügelmappen zu einem Ganzen zusammengeführt. 

 

Rudolf Lasselsberger gestaltet seine Bücher wie Arbeitsunterlagen der Erinnerung, Cover, Beschriftung und Layout erinnern an Baupläne, die jemand ausrollt, um auf ein paar Vermessungspunkte aus einer unversiegelten Kindheit zu zeigen.

 

 

 

Rudolf Lasselsberger: Auf einmal war ich mitten drin. Texte. Zeichnungen von Erich Sündermann. Anhang 14 Landschaften.

 

Wien: loma/druck.at 2024. 52 gez. Seiten. EUR 17,50. keine ISBN.

 

Rudolf Lasselsberger, geb. 1956 in Schlatten 8, lebt in Wien.

 

Erich Sündermann, geb. 1952 in Ruprechtshofen, lebt in Wien.

 

Helmuth Schönauer 03/03/24

 

 

 

 

 

 

 

--

 

 

 

GEGENWARTSLITERATUR 3207

 

Spur ins Ungewisse

 

Erst wenn sich jemand damit beschäftigt, wird aus der unbeachteten Materie eine Spur, aus der sich das Abenteuer der Entdeckung aufbäumt. Manche denken dabei auch an einen Spurschaden bei der Fahrzeuglenkung, andere begnügen sich mit der Formulierung, dass jemand „aus der Spur geraten sei“. In der Literatur ist alles, was jemand schreibt, eine Spur, die bei den Lesern „Spuren hinterlässt“.

 

Rudolf Lasselsberger nimmt für seinen Roman jene Spuren auf, die an seiner Existenz als Autor vorbeiführen, – sobald er diesen nachgeht, gelangt er ins Ungewisse. So wird oft das Geheimnis um einen selbst umso rätselhafter, je mehr man sich mit Herkunft, Ausblick und Sinn beschäftigt.

 

„Spur ins Ungewisse“ führt ähnlich einer Detektivarbeit in eine Kindheit im ländlichen Raum der 1950er Jahre zurück. Held und Investigativjournalist seiner eigenen Psyche ist der Schriftsteller Franz, der schon längst in Wien lebt. Nach sechzehn Jahren Schichtarbeit in einem Postzentrum ist er ausgebrannt, kaputt und fallweise mit Panikattacken übersät.

 

Mittlerweile arbeitet er als Schriftsteller in prekären Verhältnissen. Um Ordnung ins monotone Tagwerk zu bringen, fährt er so gut es geht aufs Land hinter St. Pölten, wo seine Mutter Elfriede an Parkinson erkrankt ist und in einem Heim lebt.

 

Der Roman entwickelt sich alsbald zu einer zweifachen Spurensuche, die irgendwie ins Verlöschen führen. Einmal werden die Spuren zu Mutter, Schwester, Kindheit und verstreuter Verwandtschaft im Sonntagslicht zum Leben erweckt, andererseits wird die eigene Existenz zwischen Arbeitsmarktservice, Arzt und Autorenkampf recht und schlecht in den Wiener Alltag eingepflockt.

 

Ein Ausflug beginnt mit Frühstück aus der Hand, Schnellbahn, Bus und Schwester, die am entlegenen Bahnhof wartet, dann geht es zur Mutter, die manchmal gute, dann wieder schlechte Tage hat. Das Pflegepersonal übernimmt allmählich die Kommunikation, um die nächsten Schritte für die anstehende Woche zu planen. Manchmal geht sich mit der Schwester anschließend ein Spaziergang in die Kindheit aus, in der selbst in der Erinnerung nichts mehr so ist, wie es einmal war. Am Friedhof ist ein Kerzenautomat von Vorteil, der zu jeder Tages- und Nachtzeit Besuche und Gedenken möglich macht. Und zu gedenken gibt es bei einer weitschichtigen Verwandtschaft viel, mancher Tod ist immer noch herzzerreißend nah, wie jener der Nichte. 

 

Unter der Woche heißt es warten auf das Arbeitsstipendium, das erst spät im Roman kommt. Therapien, Immobilität durch Fersensporn, Bluthochdruck. Ein kaputter Körper soll mit kaputtem Essen über die Runden gebracht werden, wenn es etwa darum geht, dass man statt einer Handsemmel zwei billige Massensemmeln futtern muss. Die Freundin lässt sich ab und zu besuchen, aber das große Schnarchdilemma zwingt den Franz dann wieder nach Hause zu gehen, wenn jemand von den beiden müde wird. Und Franz schläft viel, „büselt“, wie es im Fachjargon heißt.

 

Als das Stipendium dann kommt, ist es eigentlich schon wieder ausgegeben, noch ehe es richtig eingelangt ist. Ein trockener Boden kann nur schwer Wasser halten, heißt es bei den Agrariern. Kulturell ändert sich nicht viel, der Wiener Sportklub ist immer noch eine wichtige Quelle für das Vereinsleben, das man am besten in der Vereinszeitung am Klo nachliest. Die Gedichte machen viel Arbeit, und es ist bis zum Schluss nie sicher, ob sie einen Wert haben.

 

Auf dem Weg zur Mutter tun sich stets Seitenkanäle zur Verwandtschaft auf, der Vater ist schon gestorben, und Franz konnte ihn noch einmal besuchen und sich irgendwie seltsam fix verabschieden.

 

Jetzt dürfte es mit Mutter soweit sein. Die Heimschwester schickt kurze Mails, um den das Verlöschen von Mama zu anzudeuten. Die Kindheitsschwester schickt einen Entwurf für eine Parte.

 

Und dann ist das Begräbnis, alle sind da, die mit der Zeit weg gedriftet und ausgeträufelt sind, jetzt bilden sie zusammen eine dicke Spur, die ins Ungewisse führt. Es gibt Schnitzel, und Franz lässt sich noch ein paar einpacken für Wien, wenn er dort im Alltag mit der Trauerarbeit beginnt.

 

Das Schicksal des Autors Franz ist mehr zu Herzen gehend, als es je eine von ihm ausgedachte Geschichte sein könnte. Das ist pures Überleben, wie sich der Held durch die Zeit kämpft, die Spur, die er dabei hinterlässt. ist sichtbar wie schwere Caterpillar-Rillen im Sand. – Und gleichzeitig ist der Held geduldig mit sich und den anderen, aufgeschlossen für die tägliche Freude an einer kleinen Handsemmel.

 

Nicht umsonst wirken die sechs Vignetten von Erich Sündermann wie bunte Bilder aus dem ersten Lesebuch, wenn der Aufenthalt von Mama im Heim gezeichnet ist als Spur, die bei keinem Wetter eingeweht werden kann. Mama lässt sich in den Speisesaal bringen, sie sitzt aufmerksam im Rollstuhl und erwartet ein Gespräch, die Leuchtkörper im Raum sind hell wie die Blätter im nahen Herbst.

 

Es sind diese Romane, die als Vignetten ausgebreitet sind, um uns Leser ans Herz fassen, während wir umblättern.

 

 

 

Rudolf Lasselsberger: Spur ins Ungewisse. Roman. Mit Zeichnungen von Erich Sündermann.

 

Berlin: united p.c. 2023. 174 Seiten. EUR 24,90. ISBN 978-3-7103-5759-6.

 

Rudolf Lasselsberger, geb. 1956 in Schlatten 8, lebt in Wien.

 

Erich Sündermann, geb. 1952 in Ruprechtshofen, lebt in Wien.

 

Helmuth Schönauer 09/10/23

 

 

 

--

 

BIP | Buch in Pension | Helmuth Schönauer | Mitterweg 56 a | 6020 Innsbruck | www.schoenauer-literatur.com

 

 

 

 

GEGENWARTSLITERATUR 3078
Willi und die Mohnblumen
Im Idealfall steht einem als realistischem Schreib-Helden ein literarischer Freund bei, der so etwas ist wie ein Medium, eine Therapie, der Kater am Morgen oder das Passwort für eine
verzwickte URL.
Rudolf Lasselsberger hat nun schon seit längerer Zeit das Glück, dass ihm Willi beim Schreiben und Leben beisteht. „Willi und die Mohnblumen“ heißt Band sieben der Willologie.
Das Thema ist das Auffächern der Ereignisse in verschiedene Gleichzeitigkeiten.
Im Gespräch mit Willi ist es beispielsweise möglich, einen Flash auf 2013 zu riskieren, von wo aus es dann auf der Erinnerungsachse des Fußballs zurück zum legendären FC Wacker Innsbruck geht, der 1977 gegen Celtic Glasgow über sich hinauswächst und diese Eruption
anschließend in einem Match gegen Melk auf den Rasen bringt. Und am Rasen steht Willi als junger Kerl und sieht, wie er durch den FC Innsbruck mit der heroischen Welt voller Fußballwunder verbunden ist.
In einer ähnlichen Erinnerungskonstruktion tauchen sogenannte Arbeitspläne bei der Post auf, Willi ist in einem Verteilerzentrum im Süden der Stadt eingesetzt und leidet wie ein Hund, weil jeden Tag neue Förderbänder aufgestellt werden, um die Sache zu beschleunigen. Mit Sache ist das kaputte Kreuz gemeint, denn die Arbeit hat sonst keinen Sinn, außer das Körpergerüst der Arbeitenden zu zerstören und später Panikattacken auszulösen.
Und diese Panikattacken ziehen sich als Rösselsprung über das Textfeld. Willi kämpft stationär, mit Medikamenten und vor allem mit herrlichen Massagen gegen die Ausläufer dieser Attacken.
Als Leser ist man durch diese Erinnerungsketten ein geheimer Vertrauter von Willi, dem Schreiber und den Themen geworden. Manchmal heißt das Thema Lena, dann sind es sogar drei Personen, die ständig die Konsistenz wechseln. Willi kann man wörtlich auch als Frage sehen, Will-I? Diese Figur erlaubt es, den Konjunktiv in die Tat umzusetzen, gleichzeitig aber auch die Handlung anzubrechen, wenn sie riskant wird.
Gleich zu Beginn entdeckt Willi nämlich, dass er einen entgangenen Anruf von Lena am Display hat, er könnte zurückrufen, „es wäre ja nur ein Rückruf“, aber da ruft sie selbst noch einmal an. Dieses Vage bestimmt das Verhältnis von Willi zu Lena. Andererseits kleben Willi und Schreiberheld wie zwei Saugnäpfe an Lena. „Man müsste sich entsaugnapfen!“ Das ist leichter gesagt als getan.
Eine erinnerte Beziehung führt zurück zu Herta, mit der er einmal ein pädagogisches Studium gemacht hat. Jetzt aber liegen viele Weggabelungen dazwischen. Zusammengehalten werden
die Beziehungen im Alter nur dadurch, dass die Körper kaputt sind und sich die Menschen mit Medikamenten gegenseitig aushelfen, wenn die Apotheken zu sind.
Blutdruck messen heißt soviel wie Erinnerung betreiben. Wenn alles passt, gibt es ein Eigenbussi, weil sonst niemand da ist. Willi machts möglich.
Die Literatur liegt tagelang in der Luft oder huscht durch die Stadt. Einmal geht Friederike Mayröcker über einen Zebrastreifen: „Sie ist als Ganzes ein Gedicht.“ (25) Ein andermal ist etwas logisch wie der „Sechste Sinn“ von Konrad Bayer. Dann packt der Lyriker Futscher als Beislwirt ein Gedicht aus, und schließlich helfen Ilse und Fritz vom Fröhlichen Wohnzimmer tapfer mit, dem Willi in sein Buch hinein zu verhelfen.
Das ist gar nicht so einfach, denn am Beginn müssen Widmungen, Zitate und Drucknachweise verfasst werden, für die Leser ist das so etwas wie der süße Brei, durch den sie sich ins Schlaraffenland des Textes hineinlesen sollen. Die Meta-Ebene des Buchmachens fließt durch alle Seiten, einmal heißt es, dass hier eine Zeichnung sein sollte, ein andermal wird diskutiert, wo man gendern muss, und als Höhepunkt des Buchmachens gilt das Einfügen einer „Zierzeile“ (58), die putzt nämlich jede Literatur ungemein auf.

 

Als Willi sieht, dass er tatsächlich ins Buch hineingekommen ist, trinkt er einmal ein paar Schnäpse, oder ist es wegen Lena?
Willi lasst sich generell nicht einfangen, schon gar nicht von Germanisten. Trotzdem gendert er manchmal und ist auch sonst mit den Gebrauchswörtern des Alltags vertraut. Vom Stil her gleicht er manchmal dem Icherzähler bei Robert Walser, wenn dieser sich in ein Blatt verwandelt, das gerade vom Baum fällt und als Kind in einer zu großen Welt am Boden aufschlägt.
Für einen Augenblick schaut der Traum einer Ägäis-Insel vorbei, es kann aber auch das neue Buch vom Futscher sein, das dieses Gefühl der Freiheit auslöst. Auf jeden Fall sind die Mohnblumen rot, ob sie nun am Gürtel stehen, im Buch herumwuchern oder auf einer Insel im
Wind wackeln.
Rudolf Lasselsberger entwirft mit seinem Willi eine magisch-prekäre Erzählfigur, die ihn zu einem wesentlichen Vertreter des Austrian Beat macht.
Rudolf Lasselsberger: Willi und die Mohnblumen. Band 7 der Willologie. Fünf Zeichnungen. Coverbild von Anna Berg.
Berlin: united p.c. 2022. 64 Seiten. EUR 15,90. ISBN 978-3-7103-5362-8.
Rudolf Lasselsberger, geb. 1956 in Schlatten 8, lebt in Wien.
Helmuth Schönauer 18/02/22

 

 

 

 

 

 

GEGENWARTSLITERATUR 2984
Die gelbe Linie
Im öffentlichen Raum gelten teils sichtbare, teils unsichtbare Grenzen, deren Überschreiten mehr oder weniger konsequent geahndet wird. Wie bei allen Grenzen hat jemand, der eine solche zieht, andere Begründungen für ihre Sinnhaftigkeit, als jemand, der sie überschreiten will. Eine besondere Grenze, die wegen ihrer Lächerlichkeit fast lückenlos respektiert wird, ist in U-Bahnen und auf Bahnhöfen die sogenannte „gelbe Linie“, die verhindern soll, dass sich geschwächte oder beeinträchtigte Fahrgäste der Garnitur nähern, obwohl diese noch gar nicht eingefahren ist.
Rudolf Lasselsberger nimmt diese wundersame „gelbe Linie“ zum Anlass, um sich an ihr durch den Dschungel von Ereignissen zu kämpfen, die jeweils zwischen öffentlich und privat oszillieren. Jeder Mensch steht nach dieser Überlegung an einer gelben Linie, die sich täglich ändert. An ihr prallen manche Ereignisse ab, andere diffundieren und werden zu einer rein privaten Empfindung.
Die Literatur lebt von dieser phänomenalen Grenzziehung zwischen privat und öffentlich, schon seit Jahrhunderten lernen die Leser, die Leserinnen aus den privaten Schicksalen, um daraus einen persönlichen Nutzen zu ziehen, andererseits orientiert sich der Staat samt seiner Öffentlichkeit gerne an literarischen Vorlagen, um daraus heldenhaftes Benehmen und glorreiche Daseinsbewältigung zu lukrieren. Die gelbe Linie ist dabei ein Leitfaden, wie man über diese Geschichten diskutieren kann, ohne sich selbst, andere, oder gar das Staatsgebilde zu gefährden.
Rudolf Lasselsberger hat neugierig eine Angelschnur ins Wasser des Daseins geworfen und ist nun selbst gespannt, was an ihr kleben geblieben ist, wenn er sie aus dem Pott des Alltags herauszieht.
Offensichtlich geht diese Fangschnur bis ins Unterbewusstsein hinein, tief in die österreichische Seele, denn in regelmäßigen Abständen kommen kleine Nazipartikel zum Vorschein, sogenannte Einzelfälle, die sich verschämt im Scheinwerferlicht der Zeitgeschichte winden, wenn sie aus der braunen Tunke herausgehoben werden. Über weite Strecken werden diese Eingeweide aus einer überwunden geglaubten Zeit zum Trocknen ausgelegt, die Wiederbetätigungen und Verharmlosungen brutalen Gedankenguts sprechen für sich selbst. An manchen Tagen hört es gar nicht auf, man müsste das Förderband der Geschichte abstellen, wollte man die Fundstücke der dunklen Seele Österreichs unsichtbar machen.
Neben den ausgelegten Notizen und Ausrissen aus dem täglichen Nachrichtenabfall macht sich der Held, ein gewisser Franz, daran, Ordnung in sein Leben zu kriegen. Vieles in seinem Lebenslauf ist zufällig und in mäandernden Querverläufen geschehen. Weit und breit keine gelbe Linie, mit der man sich straff durch die eigene Biographie voran tasten könnte. Die kleinen Zeichnungen von Erich Sündermann wirken dabei wie Querschläger. Er zeichnet als Freund des Autors schon seit Kindheitstagen jene Welt mit, die der literarisch angelegte Franz in kurze Kapitel zu fassen versucht. Diese Zeichnungen mit zartem Bleistiftstrich erinnern an Spielkarten, die einer subtil verschleierten Gesellschaftsordnung unterliegen. Wo üblicherweise Unter, Ober und König das Sagen haben, zeigen hier fantastische Gebilde aus Königskerzen und Jupiter-Ringen, dass in der Kunst niemand wegen eines anderen unter die Räder kommen muss.
Schlüsselstelle der Textsammlung ist jene kleine Ausfahrt nach Bad Aussee, die auf ein Stipendium einer Eintagsfliege zurückzuführen ist. Franz versucht ein Schreibprojekt abzuwickeln, indem er über seine Kindheit hinausfährt. Der erste Teil der Anreise entspricht ja noch dem logischen Vorsatz, etwas aus seinem bisherigen Leben aufzusammeln und neu zu ordnen, aber dann schießt er mit dem Zug bis nach Bad Aussee hinaus, das ja als Herz von Österreich gilt. In der Absteige freilich verläuft alles so, wie er es in seiner Wiener Wohnung eingeübt hat, er kommt kaum zum Schreiben, weil ständig im Fernsehen das gleiche Programm läuft wie in Wien. Das österreichische Fernsehen scheint ein Universalsender zu sein, der überall im Land gleich heftig empfangen werden kann. Und siehe da, jetzt tauchen wieder diese Meldungen von den Einzelfällen auf, kaum dass die Sendung mit dem Buchantiquar Wilsberg vorbei ist.
Unvermittelt bietet sich dann doch eine Ordnung im aufgehäuften Material an, die Jahreszahlen 2018 und 2019 suggerieren eine Einmaligkeit des Erlebten, dabei halten sich Erlebnisse nie an Jahreszahlen.
Ein umfangreiches Inhaltsverzeichnis schlägt dem Leser, der Leserin neue Schlüsselwörter vor, indem sich  zuvor gelesene Kapitel mit einem kurzen Begriff aufrufen lassen und so für eine neue Deutung parat stehen. Dabei kommt allmählich ein ähnlich fetter Sinn-Strang Österreichs zum Vorschein, wie es der eingangs angelegte Wiederbetätigungspfad ist. Es ist die Notstandshilfe, die prekäre Menschen auf Schritt und Tritt begleitet und sie in ein schmerzliches Dilemma führt: Schlägt so jemand diese Existenz-Spende aus einem gewissen Reststolz heraus aus, verhungert er physisch und als Sprichwort, nimmt er sie in Empfang, wird er argwöhnisch gemustert, ob sie ihm wohl zu Recht gewährt worden ist.
Im Fernsehen sind zu diesem Thema immer zynische Personen zu sehen, wie etwa eine ehemalige Sozialministerin aus dem Kernölland, die im Handstreich die Krankenkassen vernichtet hat und sich dann über das Notstandsgeld hermacht. Aus der Sicht von Franz, der dieses Desaster täglich in allen Nuancen aus dem Fernseher und einer flachen Zeitung abruft, wird dabei mehr überschritten als eine gelbe Linie.
Rudolf Lasselsbergers zeitgeschichtliche Schürfanlage arbeitet im Tagebau, Tag für Tag. Dabei setzt sie alle Stufen der Wirksamkeit ein, vom genauen Zitat, über die visualisierte Phantastik, bis hin zu schlechten Alpträumen des Helden. Es kommt immer das gleiche Material zu Tage, von dem Wittgenstein einst gesagt hat: Das Leben ist nirgendwo leicht.

 

 

 

Rudolf Lasselsberger:

: Die gelbe Linie, eine Nachricht, Teil 1 der Quadrologie, Zeichnungen von Erich Sündermann,     Berlin (D), Neckenmarkt (A) 2022


Rudolf Lasselsberger, geb. 1956 in Schlatten 8, lebt in Wien.
Erich Sündermann, geb. 1952 in Ruprechtshofen, lebt in Wien.

 

Helmuth Schönauer

 

 

 

 

 

Buch erhältlich bei Rudolf Lasselsberger,

 

Lorenz Mandl Gasse 32-34/40, 1160 Wien

 

06642111977

 

rudolf.lasselsberger@aon.at

 

 

 

GEGENWARTSLITERATUR 2933
Genau in diesem Moment begann es zu regnen
Als man noch keinen Hyperlink hatte, musste man sich mit der Fügung behelfen: „Genau in diesem Moment“. Mit ihr wird schlicht und überraschend die Szenerie gewechselt. Eben noch ist man mit dem Inneren einer Psyche beschäftigt, jetzt, genau in diesem Moment, beginnt es zu regnen, und man ist im unerschöpflichen Feld der Meteorologie.
Rudolf Lasselsberger verfasst seine Erzählungen oft in der Hyperlink-Manier. Eine Geschichte beginnt aus der Erinnerung heraus, und noch in der Satzmitte kommt ein anderes Ereignis ins Spiel und übernimmt die Story. Der Klassiker dieser Vorgangsweise ist dabei die abenteuerliche Formulierung: „Genau in diesem Moment begann es zu regnen.“
Die Erinnerung funktioniert ähnlich wie das Surfen im Netz, weshalb das Surfen ja so beliebt ist. Besonders die Kindheit eignet sich gut zum Erinnern, weil sie aus tausenden von Erinnerungspixeln besteht. Man sieht in der aufgerufenen Vergangenheit ein Stück Wald, schon sind ein paar Freunde darin unterwegs, da kommt flugs Winnetou um die Ecke und als Höhepunkt beginnt es zu regnen.
Nach dieser Methode geht der Autor vor, wenn er sein Buch über die Kindheit als riesige Verlinkung unscheinbarer Sequenzen anlegt. Schon der Weg ins Buch hinein erinnert an jenes Abenteuer, mit dem man als Kind sein einziges Buch gelesen hat, und das war oft ein Buch von Karl May. Das sorgfältige Aufschlagen eines Buches braucht Zeit, und der Autor, Verleger und Herausgeber gewährt sie in Personalunion. Titel, Dank und loma-Stern müssen durchritten werden, ehe es gleich zur Sache geht: Ein abgelegener Haufen Stauden wird zum Treffpunkt für eine Kinderbande. Steine dienen als Navigationshilfe und werden als geheime Markierungen ins Gelände gelegt. Dann geht es stracks hinauf auf einen Hügel, von dem aus die nächsten Spielzüge in die Umgebung gesetzt werden, so wie es auch Winnetou macht, wenn er die Lage erkundet. Überhaupt wird viel Winnetou gespielt, weil das die einzige Figur ist, die alle kennen und die unumstritten ist.
Einen deprimierenden Höhepunkt der Kindheit gibt es freilich, als eines Tages der Bunker eingeschissen ist. Beides wäre gleich schlimm, dass jemand Fremder den Bunker entdeckt und für die Notdurft verwendet hat, oder dass es jemand von den Kindern war, der durch diesen Haufen seinen Missmut auf das Winnetou-Spiel kundgetan hat. Am Waldrand kommt es zu einer Lagebesprechung, die kein eindeutiges Ergebnis bringt, zumal damals noch keine DNA-Untersuchungen üblich sind.
Überhaupt ist nichts üblich in der Kindheit, außer dass man das nimmt, was zur Verfügung steht. So gibt es ein aufregendes Sautrog-Rennen, weil die Schweine den Trog nur für den eigenen Tod benützen, die restliche Zeit können die Kinder damit spielen.
Generell lässt sich zusammenfassen: Alle Kindersachen von damals gibt es heute nicht mehr. Es ist also nicht nur die Kindheit verschwunden, sondern auch das Inventar dazu. Und wer würde heute noch in einem „Arbeiterhaus“ wohnen wollen, das für die Bande damals das Zentrum der Kindheit gewesen ist.
Da mittlerweile nichts mehr gelesen wird, das über die Struktur eines Selfies hinausgeht, tun sich die jetzt Erwachsenen vielleicht schwer, sich an früher zu erinnern. Aus diesem Grund hat Erich Sündermann die dreizehn Episoden aufgezeichnet und daraus Cover gemacht, die man für dreizehn Bücher verwenden könnte. Aus Gründen der Dramatik sind diese Bilder als Mittelblock in den Text eingeschoben. Wenn man von einem Bild zum nächsten taumelt, entsteht dieses abgehobene Gefühl, das man früher beim verbotenen Lesen eines Comics verspürt hat, alles ist logisch und luftig zugleich.
Sachte weist der hintere loma-Stern darauf hin, dass das Buch bald zu Ende sein wird. Es folgt ein Inhaltsverzeichnis, weil man die einzelnen Episoden oft schon wieder vergessen hat und sie dadurch noch einmal aufrufen kann: Stauden, Hügel, Bunker, Waldrand, Dachboden, Kastanienbaum, Baumstrunk, Hornissennest. Ja und ein Kapitel heißt tatsächlich „Im Tal des Todes“, es ist die Reinkarnation des Kapitels „In der Wiese“.
Aber alles ist lange her, die verwendeten Begriffe muss man in Wikipedia nachschlagen, weil es sie nicht mehr gibt. Bald wird auch niemand mehr lesen können, dann ist dieses Kapitel wirklich abgeschlossen. Die Leute werden sagen, genau in diesem Moment begann es zu regnen, aber nicht mehr wissen, was für ein Moment es war.

 

Rudolf Lasselsberger: Genau in diesem Moment begann es zu regnen. Eine Kindheit. Zeichnungen von Erich Sündermann.
Wien: loma* Verlag 2020. 54 Seiten. EUR 12,50. keine ISBN.
Rudolf Lasselsberger, geb. 1956 in Schlatten 8, lebt in Wien.
Helmuth Schönauer 25/09/20

 

 

BIP | Buch in Pension | Helmuth Schönauer | Mitterweg 56 a | 6020 Innsbruck | www.schoenauer-literatur.com

 

 

GEGENWARTSLITERATUR 2901
Achtung
In den Knauf einer Turmspitze hat man vor der Erfindung des Blitzableiters oft ein paar Gebetszettel, Geldscheine und Gedichte eingepackt, damit der Blitz nicht einschlägt. Denn dieser hätte dabei ja die Gedichte lesen müssen, so dass er sich meist ein trivialeres Objekt gesucht hat, in das er unkomplizierter einschlagen konnte.
Das Lesen von eingekapselten Gedichten ist auf jeden Fall ein Vorgang, der dem sprichwörtlichen Blitzeinschlag entspricht. Ilse Kilic und Fritz Widhalm geben daher seit Jahren verkapselte Kassiber heraus, die sie zwecks Bunt-Tarnung mit Bildern ausstatten, sodass die kleinen Büchlein tatsächlich einem bunten Lyrikheft gleichen. Mittlerweile werden etwa zwanzig dieser Heftchen verbreitet und von Sammlern jeweils gleich vom Markt gefischt.
Rudolf Lasselsberger nennt seine sieben Gedichte in aufregender Manier ACHTUNG! In der Tat bleibt jeder stehen, wenn jemand Achtung ruft, und überlegt, ob er im Aufmerksamkeitsmodus bleiben soll. Der Leser soll. Denn so erfährt er aus diversen Jahren ein sogenanntes Ritzen-Ereignis, welches das entsprechende Jahr unvergesslich macht. Ritzen-Gedichte nennt man im Volksmund jene Verse, die wie Lurch zusammengekehrt sind und komprimiert in einer Ritze des Bodens versteckt werden.
Das Titelgebende Eingangsgedicht wendet sich mit einem kräftigen Achtung an die Leserschaft, es gilt zurückzutreten, wenigstens am Bahnsteig, denn ein Zug fährt ein. Die Dinge sind wie die Menschen sich selbst überlassen, ein Plakat wirbt vor sich hin, Schicksale sind zu Schlagzeilen verkommen, die lieblos vorgetragen werden, irgendwo gibt es Kopfschüsse, anderswo kümmert sich eine Partei um Arbeitsplätze, Wale und Delphine sind am anderen Ende der Welt verendet, die Sprache ermüdet und wird ungenau: „Wieder Schneefall bis in die Teller / Minen.“ (8) Das Jahr 2009, mit dem das Gedicht unterzeichnet ist, wird so zu einem poetischen Bahnsteig, der sich easy in den Lyrikband kleben lässt.
„Hinterm Schatten“ lässt einen Augenblick aus 2017 aufblitzen, wo die Gegenwart allmählich mit einem Kondensstreifen an den Rand des Horizonts fliegt, ohne jegliche Berührung kommt es dabei zum Wort Liebe, ehe sich alles in permanenter Spurlosigkeit auflöst.
Helle Augenblicke tauchen jäh auf wie eine „bunte Kuh“, das lyrische Ich sitzt mitten in der Jahreszeit und schaut einer Liesl zu, während schweinische Witze zu lauern beginnen. Ein heftiger Schnabel-Stich in den Bierschaum hält alles in Kontrolle.
Schwer kontrollieren lassen sich hingegen jene Gedichte, die spontan vorbeischauen und etwas „proklamieren“. Dieses Mal ist es eine Raupe, die sich mitten im Vers zu einem Schmetterling verpuppt und stracks über eine grüne Wiese ins Sonnenlicht zischt.
Und auch im folgenden Jahr sind es wieder die Flugzeuge, die nicht aufhören, den Himmel zu zerschneiden. Das lyrische Ich sitzt vor seinem TV und kratzt sich am körpereigenen Gerät, das nackt leicht zugänglich ist. Das Gedicht ist perfekt, aber was sagt es uns? (16)
Vor der schönen wienerischen Fügung „mir geht ein Wimmerl auf“, ist auch das lyrische Ich nicht gefeit, wenn es zu lange in der Stadt sitzt. Die Poesie ist genau und schleicht sich in den passenden Sound hinein, jetzt wird das Wimmerl zu einem Gedicht, ehe es platzt wie für einen Kinderreim.
Ein Ritzengedicht in doppelter Bedeutung ist jener Schlussakkord, der sich verstohlen „heißer Atem“ nennt. Das lyrische Ich fährt mit dem Handrücken über den After und spürt jenen Lebensodem, der aus den lasziv geöffneten Backen fährt.
Rudolf Lasselsberger braucht nur ein paar Zeilen, um eine ganze Epoche zur Zeitgeschichte zu erklären. Während allenthalben die Alltagshistoriker Devotionalien des Konsums sammeln, um die Zeit für kommende Generationen aufzubewahren, genügt es diesem lyrischen Ich, ein paar Atemzüge auf das Papier zu fächern, und es ist alles da: Achtung, Liebe, Horizont, Hitze und Wind auf allen Kanälen.
Das Fröhliche Wohnzimmer illustriert dabei mit Hingabe alles, was in den Gedichten steht, und kein Strich ist zu viel oder zu wenig. Als Draufgabe gibt es ab und zu einen Vogel als Wappentier, damit allen klar ist, dass es um Lyrik geht.

 

 

Rudolf Lasselsberger: Achtung. Gedichte. Mit Bildern von Ilse Kilic und Fritz Widhalm.
Wien: Das Fröhliche Wohnzimmer 2020. (= buntes lyrikheft 19). 21 Seiten. EUR 5,-. Keine ISBN.
Rudolf Lasselsberger, geb. 1956 in Schlatten 8, lebt in Wien.
Helmuth Schönauer 09/05/20

GEGENWARTSLITERATUR 2746
Maiglöckchen und Dornwies
Wo enden denn alle diese großen Gedankenentwürfe, Konsumartikel, Verheißungen, Urlaube und Sonderangebote, die rund um die Uhr angeboten werden? - Sie alle kommen an die Peripherie und ins Innere der Menschen in einem. Wer sie endgültig aufzeichnen will, muss sie beim Endverbraucher abhorchen, in den innigen Herzen, die am Rande der Gesellschaft auf Sparflamme glühen. Das Motto dafür heißt logischerweise: Heimat ist dort, wo der Schlüssel passt, ein Spruch!
Rudolf Lasselsberger überschreibt seine Anthologie von den innigen Herzen mit botanischen Begriffen der Volkskunst. Maiglöckchen und Dornwies sind der ideale Schmuck für eine Frömmigkeit gegenüber dem Leben, die sich auf das Kargste beschränkt und jeden Schnickschnack weglässt.
Anthologie ist vielleicht ein hilfloser Begriff, in Wirklichkeit handelt es sich wohl um einen Über-Roman, der aus fünf Lebenswerken von fünf Künstlerinnen entwickelt ist. In einem persönlichen Waschzettel formuliert Rudolf Lasselsberger auch die Notwendigkeit, mit diesen Menschen das Buch zu verwirklichen.
„Josef K. war mein Deutsch-Professor in Scheibbs, hab bei ihm maturiert, hat mich auf Wespennest aufmerksam gemacht damals. Elfriede H. stammt vom selben und gleichen Ort wie meine Wenigkeit, ist vor einigen Jahren bei einer Lesung von mir aufgetaucht. Meine Mutter, Hermine L., hat zum Glück noch künstlerisch tätig sein können, bevor Parkinson sie endgültig zum Schweigen brachte, voriges Jahr ist sie gestorben. Dieses Buch liegt mir sehr am Herzen.“ R.L., April 2016
Hermine Lasselsberger führt ein Tagebuch im Marienheim, die einzelnen Blätter aus einem Notizblock sind ein Mittelding zwischen Andachtsbild und Sterbebild. Aus den Blättern springt jeweils eine spruchartige Erkenntnis entgegen, die von einer Schraffur unterlegt ist, die vielleicht eine Stimmungskurve darstellt. Ab und zu grinst auch ein Gesicht aus einer Ecke, die Erschreckens-Skala reicht dabei von pfiffig bis bleich. „Telefon neben mir, aber es ruft niemand an.“ (15) „Es ist jetzt 10 Uhr, ich sitze im Zimmer, der Fernseher zeigt einen schönen Film über eine Traum Insel.“ (17) „Sonnenschein und Gewitterwolken, so ist das Leben, ziehen übers Land.“ (19)
Elfriede Hochher leuchtet in knapp zwanzig Sequenzen „Lisas Gesicht“ aus. Lisa denkt vor allem in Bildern, die sie unaufgefordert bestürmen und nie erklären, was sie eigentlich wollen. Im Kino werden die Bilder hintereinander gereiht, aber es sind nicht jene, die manchmal Hände kriegen und Lisa an die Schulter fassen. Je älter ich werde, um so heftiger werden diese Bilder, meint sie. „Der Mensch macht aus seinen Gewohnheiten Rituale. Meist unbewusst. Kinder phantasieren. Ganz bewusst.“ (48)
„Schön war die Zeit“ zitiert Josef Kammerer einen alten Song, wenn er in neun Stationen von jenen Rauschwellen berichtet, die mit entsprechender Verzögerung durch die Entlegenheit an den Gehörrand drängen. „Jesus, Mozart, Toni Sailer“ fasst anhand von Schlagzeilen jene Welt zusammen, die zum Aufputschen der Menschen dient, dass sie glücklich bleiben während der Arbeit. Neben dem schöpfungsnotwendigen Jesus zeigt Mozart, dass es etwas wie Luxus neben der Schöpfung gibt. Und der Vater stellt dem Kind auch gleich große Künstler vor, alle sind Männer und Österreicher. Da macht es nichts, dass Toni Sailer neben dem Singen auch noch auf Schi macht. In die Orgie vom Siegesrausch des Toni Sailer schleichen sich auch Wörter ein, die den Glanz eintrüben. Südtirolkonflikt. Solche Wörter muss man draußen lassen.
Josef Kammerer platziert um diese Schlagwörter von der schönen Zeit einen Gegenkosmos, der entsteht, wenn man anfängt, die Welt für sich selbst zu deuten. Zu Sternstunden gelingt dann das Außergewöhnliche, so soll in Dornwies am Ötscher ein Festival mit Woodstock'schen Ausmaßen stattfinden,
Größe und Authentizität stellen auch Rudolf Lasselsberger immer wieder vor allerhand Schwierigkeiten, wenn die Emotion in die richtige Model gegossen werden muss. „FC vor, noch ein Tor“. Überall brennen die Herzen unter diesem Schlachtruf. Aber dann geht in der Praxis mit den Emotionen etwas daneben. Im Garten liegt Tschappi in seiner blauen Arbeitsmontur, er hat sich mit dem Schlachtschussapparat in den Kopf geschossen, der seltsame Blasen auf der Blutkruste bildet. Die Uhr geht noch, der Arm zuckt immer wieder und er Heli kann nicht landen, weil im Mostviertel so viele Obstbäume herumstehen. Rudolf Lasselsberger serviert letale Idyllen, diese Gegend ist schön für den, der sie aushält, die anderen müssen sich irgendwie daraus entfernen.
Die letale Heimat idyllisiert Erich Südermann schließlich mit seinen vierzehn Landschaften, die er zu Vignetten zusammengeschrumpft hat. Die Natur wird geometrisiert und gezähmt, da aber eine Patina aus Jugendstil darübergelegt ist, empfinden wir die Landschaft als Ornament und Aphrodisiakum. So kann die Landschaft in der Galerie hängen und tut nicht weh, man ist bereit, für diese Schönheit der Blätter zu zahlen, weil sie draußen außerhalb des Bildes so nicht vorkommt. Ein sauberer Fahrstreifen führt in den Wald, der Letten ist gut gemustert und die Büsche halten sich an den goldenen Schnitt. Ein zweistämmiger Baum im Vordergrund ist so zusammengeschnitten, dass er im Seh-Volumen genau der Maya-Pyramide im Hintergrund entspricht. Eine Baumgruppe hat die tragenden Schäfte wie ein japanisches Schriftzeichen ausgerichtet. Überhaupt, diese Landschaft ist so hergerichtet, dass man sie überall hinstellen kann. Vermutlich ist auch das Mostviertel einst nach dieser Methode aufgebaut worden.
Maiglöckchen und Dornwies sind die Antwort auf die Globalisierung. So finden Freundschaften, Ereignisse ja überhaupt das Leben statt, wenn die Menschen vom Netz genommen sind. Es bleiben archaische Empfindungen und ein seelischer Algorithmus, der auf Wärme reagiert.

 

Rudolf Lasselsberger (Hg.): Maiglöckchen und Dornwies. Nachrichten aus dem niederösterreichischen Mostviertel und Umgebung. Hermine Lasselsberger / Elfriede Hochher / Josef Kammerer / Rudolf Lasselsberger / Erich Sündermann.
Wien: loma* Verlag 2014. 218 Seiten. EUR 12,50. ISBN 978-3-9503183-9-5.
Rudolf Lasselsberger, geb. 1956 in Schlatten 8, lebt in Wien. / Hermine Lasselsberger, geb. 1937, starb 2015 in Mank. / Elfriede Hochher, geb. 1948 in St. Leonhard, lebt in Leiben. / Josef Kammerer, geb. 1948, lebt in Scheibbs. / Erich Sündermann, geb. 1952 in Ruprechtshofen, lebt in Wien.
Helmuth Schönauer 14/06/18

 

 

 

GEGENWARTSLITERATUR 2668

Idyllie

Idyllie ist ein überzeugender Begriff zur Beschreibung eines extremen Wahrnehmungszustandes, einerseits steckt etwas Liebliches drin wie die Idylle, andererseits geht von dem Wort eine Bedrohung aus, wie wir sie vom Begriff Schizophrenie her kennen.

Rudolf Lasselsberger gilt als der Meister peripherer Erlebnisströme wie sie sonst nur die Beatniks erleben, wenn sie abseits des Mainstreams ihre eigenen Erfahrungen sammeln und sogar noch stolz darauf sind.

Im kleinen, spitzfindig feinen loma-Verlag kommen immer wieder neue Kompositionen des Autors zum Vorschein, die vielleicht wie ein Adventkalender arrangiert sind. Hinter knapp sechzig lyrischen Türchen liegt jeweils eine Überraschung parat: ein Gedicht, ein Spruch, ein aus der Zeit gefallener Leitartikel, eine Gebrauchsanweisung.

Als Leser kann man nie genug kriegen davon und reißt wie einst in der Kindheit alle Öffnungen auf, hinter denen man etwas Lyrisches vermutet. Das geht sogar so weit, dass man plötzlich auch außerhalb des Gedichtbandes Gedichte vermutet. Man reißt ein Küchenkastl auf, man dreht den sprichwörtlichen Abstreifer um, man zieht ein Wattestäbchen aus einer Öffnung, überall sind plötzlich Gedichte dran und drin.

„Im Notfall // an dieser Stelle / kräftig / nach innen / ziehen. / (Nov 97)“ (34) | „Nothammer // Im Notfall / Fensterscheibe / einschlagen / Jeder Missbrauch / wird bestraft. / (Aug 06)“ (16) | „Wir ersuchen Sie // Ihren Sitzplatz / anderen Personen / zu überlassen / wenn diese ihn / notwendiger / brauchen. / (Okt 06)“ (26)

Hintereinander gelesen sind diese öffentlichen Gedichte eine Botschaft der Verlässlichkeit. Zu verschiedenen Jahreszeiten in verschiedenen Jahren gelesen ermöglichen sie so etwas wie Identifikation, wenn nicht gar Heimat. Aber der Einspruch folgt in den Öffis sitzenden Fußes: „Heimat ist dort, wo der Schlüssel passt, ein Spruch!“

Allmählich lernt das Lyrik-lesende Auge, dass Vorsicht geboten ist, wenn einem etwas auf den ersten Blick logisch vorkommt. In die Sprüche sind kleine Ösen eingestanzt, die das pure Nichts bedeuten, eine Leerstelle, durch die man später einmal einen Sinn fädeln könnte.

So sind auch Reisegedichte aus Griechenland auch nach der Heimkehr noch brandgefährlich, wenn sich die Leber im Retsina windet, eine einzige Zeile wird genügen, um das lyrische Ich maßlos zu treffen, der Frühling kommt mittlerweile vom Band und das Vogelgezwitscher wirkt dementsprechend ausgestorben und überhöht. Die Idyllen haben eine makabre Fratze eingebaut, die sie nur gegen Vorbestellung zeigen. Am schärfsten sind die Idyllien, wenn sie sich als Einschlafgeschichte einer behüteten Kindheit tarnen oder einen Abzählreim der urinösen Art vorführen.

Rudolf Lasselsberger verlässt verlässlich den lyrischen Mainstream und als Leser kann man gewiss sein: Wo sein lyrisches Auge hinblickt, ist pure Poesie los!

 

Rudolf Lasselsberger: Idyllie. Gedichte.

Wien: loma* Verlag 2017. 62 Seiten. EUR 12,50. 080920172134.

Rudolf Lasselsberger, geb. 1956 in Schlatten 8, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer 30/10/17

 

 

GEGENWARTSLITERATUR 2496

Willi in O.

Manchmal muss man ein Buch wegen seiner Gattungsbezeichnung lesen. Wie wirkt sich wohl eine Erfrischung auf den lesenden Körper aus? Springt sie gleich in den Kopf und erhellt alles? Macht sie die Beine frisch, als ob man gewandert wäre? Kommt die Erfrischung überhaupt aus dem Buch heraus, oder muss sie dort warten, bis im Regal die Jahrhunderte vergangen sind?

Rudolf Lasselsberger ist mittlerweile untrennbar mit seinem Willi verbunden. Vor beinahe zehn Jahren hat er während einer Eisenbahnfahrt spontan Kontakt zu ihm aufgenommen, seither fährt er mit ihm auf Kur, kommentiert mit ihm die engere Zeitgeschichte und die Auswirkungen der großen Kapitalschieflage auf das Prekariat. Willi ist ein Spiegelbild des Autors, ein ausgegliedertes Ich, oft auch nur eine voluminöse Hülle, die den Lust-Teil des Lebens übernimmt, während sich der Autor um die intellektuellen Angelegenheiten kümmern muss.

Die neue Episode „Willi in O.“ ist angeblich der Schlussteil der Williade, weil Willi wie im ersten Band wieder auf Kur fährt und dabei das Leben abrundet wie ein Omega. Dazwischen harren noch dutzende Notizbücher über den „Willismus“ ihrer Veröffentlichung.

Willi in O. spielt im Jahre 2009, die Beisl-Szene funktioniert routiniert, die Biere fließen wie von selbst in die dafür vorgesehenen Kehlen, der Zeitgeist kommt in Gestalt von Wirtshausgesprächen persönlich an den Tisch. Dann Schnitt, Willi tritt eine Kur an. Dieses O. kann Oberösterreich heißen, in Ordnung, oder auch „Oasch“. Ab jetzt gibt es nämlich nichts mehr zu essen und zu trinken, wenn man etwas will, wird einem gleich eine Ernährungstabelle vorgelegt.

Der Erzähler schiebt für das Ungemach seinen Willi vor. Dieser muss sich durch die Turnübungen, Wanderungen und Diäten kämpfen, an guten Tagen isst er alles zusammen, was die anderen am Tisch entbehren können. Die Welt hat über Nacht ein eigenes Vokabular bekommen, Wanderstöcke, Säfte, Blutdruck. Dazwischen am Flachbildschirm flache Programme, während man im Zimmer flachliegt.

Manchmal lässt der Erzähler seinen Willi liegen und flüchtet ins Notizbuch. „Alles wird gut, wenn er schön schreiben tut!“ (57) Da wacht Willi wieder auf und verlangt eine Zeichnung oder wenigstens eine gezeichnete Zierleiste.

Sportliche Ereignisse, ein Fußballer, der nach dem Debüt zum Arzt muss, der Gebrauchszettel für einen Regenschirm, eine Sondermarke mit Fred Zinnemann, Therapiepläne, ein ÖBB-Fahrschein nach Krems – alles wird ins Notizbuch geklebt und hinten in einem Register angeführt. „Duschen, mit Koffer in der Lobby, Willi zeigt den Stinkefinger, wir grinsen uns an.“

Rudolf Lasselsberger gelingt mit seinem aufgespaltenen Heldenpaar ein Geniestreich der Erzählkunst und tatsächlich eine Erfrischung. Der schizophrene Monolog geht manchmal knapp an der Psychiatrie-Kante spazieren, dann fällt das Duo wieder in ein homogenes Wesen zusammen und lässt die Welt zerborsten zurück. In jeder Zeile spiegelt sich der Lebenssinn, von Therapie zu Therapie, von Essen zu Essen, von Fernsehen zu Fernsehen. Und der I-Tupfen dabei: Schön schreiben, dann wird alles gut! – Letztlich genial optimistisch!

 

Rudolf Lasselsberger: Willi in O. Eine Erfrischung.

Linz: Resistenz 2016. 69 Seiten. EUR 14,90. ISBN 978-3-85285-295-9.

Rudolf Lasselsberger, geb. 1956 in Schlatten 8, lebt in Wien.

Helmuth Schönauer 10/05/16

 

 

 

 

Helmuth Schönauer | Öffentliches Bibliotheks- und Büchereiwesen | Universitäts- und Landesbibliothek Tirol | Innrain 50 | 6020 Innsbruck | Helmuth.Schoenauer@uibk.ac.at

 

  

 

undhier die wunderbare rezension von ilse kilic, danke, ilse!<!

 

 

Rudolf Lasselsberger: Tanz in den Mai.

 

Roman.
Mit Zeichnungen von Erich Sündermann.
Wien: Loma-Verlag, 2011.
211 Seiten, Euro 12,56.

Rudolf Lasselsbergers Roman ist im südlichen Niederösterreich angesiedelt. Dort bewegt sich das Romanpersonal auf dem dünnen Eis alltäglicher Verrichtungen und Selbstverständlichkeiten, ist ständig bedroht von Zusammenbrüchen, Gleichgültigkeiten und Niedergeschlagenheit und Freudlosigkeit, andererseits, gewissermaßen mit einem Augenzwinkern, ist es genau der Alltag, der das Leben „eigentlich“ auch ausmacht, ausmachen muss.

Rudolf Lasselsberger stellt „seine“ Hauptpersonen auf der ersten Seite des Buches vor, gleichsam ironisch auf diese Gepflogenheit im Genre „Kriminalroman“ verweisend, aber: Über Lasselsbergers Personen gibt es vorweg nicht viel zu sagen, Alter und Beruf müssen reichen, um eine Ahnung zu vermitteln, wer in diesem Buch „das Sagen“ hat. Die Personen haben hier nämlich wirklich „das Sagen“, wesentliche Teile des Textes bestehen aus Dialogen. Und was wird gesagt? Die Personen besprechen und kommentieren ihren Alltag, holen Schwung für die täglichen inneren und äußeren Notwendigkeiten, sei es das Flicken, das Einreiben der schmerzenden Füße, das Kochen von Fleischknödeln oder das Zigarettenrauchen. Die Personen füllen aber auch die zwischen ihnen entstehende Leere mit Worten. Die Schriftstellerin Liesl Ujvary hat einmal gesagt, dass ein Gutteil unseres Sprechens die Funktion hat, uns daran zu erinnern, dass wir einander (noch immer und immer wieder) mögen, dass alles in Ordnung ist zwischen uns und mit uns, also: Im Sprechen wird ein Miteinander geschaffen, in dem wir uns angstfrei zu bewegen hoffen. Diesen „Sprechraum“ versuchen die Figuren zu eröffnen, ihn einzuzäunen gegen alle Fährnisse und Krisen. Dazu passt auch, dass sie das „Nichts-Sagen“ quasi aussprechen, wie im folgenden Dialog:

(…)
Was soll das heißen.
Nix.
Nix.
Nix.
Und jetzt.
Was ‚und jetzt’.
Du bist vielleicht gut, herst.
Ja. Schön.
(…)

Diese Gespräche kennen keine Fragezeichen, was unterstreicht, dass es sich um keine wirklichen Fragen und Antworten handelt. Das Gesagte steht als erlebte Gemeinsamkeit da, Gemeinsamkeit zwischen Menschen, die nicht so recht wissen, was sie einander sagen (wollen). Das zitierte Gespräch steht auf Seite 15, hier sind wir noch am Beginn einer Entwicklung, die den Roman durchzieht: Entfremdung und Sprachlosigkeit werden zu einer Trostlosigkeit, die quasi nach und nach die Personen in Besitz nimmt. Diese aber sind tapfer, sie wehren sich nach Kräften und sie „prosten, trinken, lachen und singen stellenweise mit der Musik mit.“
Die andeutungsweise umgangssprachliche Niederschrift der Dialoge mit ihren Kalauern, Füllseln, kleinen Scherzen und Leerläufen bringt die Ambivalenz von Sagen und Nichts-Sagen zum Vorschein, zeigt die Hilflosigkeit des Romanpersonals im Umgang miteinander, betont die nur notdürftig gestopften Lücken, durch die Orientierungslosigkeit eindringt. Das klingt dann zum Beispiel so:
„Ui, jetzt hab i meine Tschick vergessen, ob ich das die fünfzehn Meter noch aushalt, sagt Andrea.“

Oder: „Na, ihr zwei Hübschen, sagt sie, was darf es sein. Sein oder Nichtsein, es muß sein, sagt Franz.“
Die einzelnen Kapitel sind mit kleinen Titeln versehen, sich wiederholende Verortungen wie etwa (Zett) oder (Schlacken) oder (Radio). Manchmal steht auch ein Datum oder eine Uhrzeit dabei. Wir befinden uns im Mai 1986, in Tschernobyl gab es einen Unfall in einem Atomkraftwerk. Das wird fast nebenbei erzählt, dennoch ist diese Katastrophe – wie alle Bedrohungen aus dem Radio – unmittelbar präsent. In der Folge nimmt die Bedrohung Gestalt an:
„Es wird geraten, Gemüse gründlich zu waschen und Kinder von Sandkästen fernzuhalten.“

Aber der Alltag kann sich um Tschernobyl nicht kümmern. Tschernobyl hat seinen Platz eben im Radio und in der Sowjetunion, die Auswirkungen sind unvorstellbar, die Welt ist groß und fremd, das eigene Leben ist ebenfalls fremd, nur etwas kleiner.
„Mag draußen die Welt ihr Wesen treiben, mein Haus soll meine Ruhstatt bleiben, steht neben der Tür am Klo.“

Zu den Verdiensten dieses Romans, der streng genommen gar kein Roman ist, gehört es, dass die Alltäglichkeit zur Sprache kommt, eine Alltäglichkeit, die gewissermaßen das Gegenteil von Entwicklung ist: So gesehen ist der Roman realistisch, weil er ernst nimmt, was die Personen beschäftigt, nämlich nicht die großen Entwicklungen, sondern vielmehr die kleinen Erfolge und Hindernisse, das Kehren der Fußabstreifer, die Arbeit als Putzfrau, das Firmendach, das „eh demnächst“ repariert wird, das „Fadenspitzerl“, das nicht ins Nadelöhr will, der Kuchen mit Schokolade und geriebenen Nüssen, die Stimmen aus dem Radio, das Eis in der Hand des Kindes undsoweiter undsofort. Die Personen sind „beschäftigt“ und wenn sie Glück haben, trotzen sie ihren Beschäftigungen so etwas wie Vergnügen ab, große Erwartungen haben sie nicht. Und doch versuchen sie immer wieder, ihr Bestes zu geben, freundlich zu sein, und dann endet alles mit einem Lächeln, nämlich so:

“Aber wirklich.
Ja.
Sabine lächelt.“

 

Rezension von Ilse Kilic
Oktober 2011

 

 

 

 

 

 

-- Beginn Publik-Forum | Tschernobyl - Fukushima -->
     <a href="http://www.publik-forum.de/kampagnen/stromohneatom/" target="_blank">
     <img src="http://www.publik-forum.de/kampagnen/stromohneatom/img/fuku_150x150.jpg" alt="Publik-Forum | Aussteigen für immer" width="150" height="150" border="0" /></a>
     <!-- Ende Publik-Forum | Tschernobyl - Fukushima --> 
    

ATOMKRAFT NEIN DANKE

The Thing Called Love, Peter Bogdanovich, ja, damals, im Kino

E.T.Spira, Alltagsgeschichte, Am Bahnhof, 1997

 

 

 

prostitution ist eine watschn ins gesicht der menschenwürde

und gewalt und erniedrigung speziell gegen die frauen unsere mütter schwestern töchter